DAS MEER
Irene
lag auf einer dicken, bequemen Matratze auf dem Bauch, den Kopf in Richtung
Meer auf ihre Hände gestützt. Sie hatte den kleinen Privatstrand fast für sich
alleine, die meisten Gäste waren schon ins Hotel zurück gegangen. Es war Ende
des Nachmittages und die Mitte ihrer Ferien.
Sie
fühlte sich etwas benommen, entspannt und wohl.
Die Sonne schien gerade richtig – sie wärmte angenehm aber brannte nicht mehr.
Die Sonne schien gerade richtig – sie wärmte angenehm aber brannte nicht mehr.
Irene
döste mit geschlossenen Augen vor sich hin. Sie war zu faul zum lesen. Ab und zu
blinzelte sie. Und wenn sie eine Stimme hörte, oder ihr sonstwie schien, es
gäbe etwas Interessantes zu beobachten, setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Nicht
nur wegen des starken Lichts sondern auch, weil sie etwas kurzsichtig war und
ihre Brille Korrekturgläser hatte. Und weil dann niemand sehen konnte, ob und
wohin sie ihren Blick wandern ließ. Sozusagen drei Fliegen mit einem Streich.
Ihr
Mann war im Wasser. Er ging öfter ins Meer als sie, die vor dem Augenblick des
Eintauchens zurückschreckte; sie konnte nicht ohne einen kleinen Aufschrei ihren
warmen Körper ins Wasser gleiten lassen, während ihr Gefährte gerade dieses
Gefühl besonders zu mögen schien. Er tauchte und spritzte wie ein Kind, blieb
aber nie lange, wieder im Gegensatz zu ihr, die, war sie einmal nass, gerne
lange schwamm. „Schwimm nicht so weit raus!“ sagte er dann zu ihr, und sie
antwortete zwar „Jaja!“, schwamm aber trotzdem weit, denn sie fühlte sich mit
Wasser im Einklang und außer Gefahr.
Sie
warf einen Blick aufs Meer, sieh an, heute schwamm er ja! Sie hätte ihm gerne
spaßeshalber zugerufen „Schwimm nicht so weit raus!“, aber sogar dazu war sie
zu faul, und er hätte es wahrscheinlich sowieso nicht gehört – der Abstand
zwischen ihnen schien zu groß und außerdem rauschten die flachen Wellen, wenn
sie sich sammelten, bevor sie sich auf dem Strand ausrollten …
Sie
schloss ihre Augen wieder, nickte ein.
Blinzelte,
setzte ihre Sonnenbrille auf. Er schwamm aber wirklich weit draußen! Sie
erschrak ein bisschen, aber das kam, weil sie gerade geschlafen hatte. Wenige
Sekunden später - sobald sie ganz bei Bewusstsein war – beruhigte sie sich. Er
war ja vernünftig und kannte sich gut. Außerdem war er ausdauernder Schifahrer,
Sportler überhaupt.
Dennoch
stand sie mit einem Mal hellwach auf.
Sie
wollte ihm entgegen schwimmen.
Puh,
es war jedes Mal, als würde ihr Herz stehen bleiben, wenn das kalte Wasser sie
umarmte!
Sie
schwamm in ruhigen, kräftigen Zügen, hatte sofort ihren Rhythmus, sie schwamm
gut und trotz ihrer langsamen Bewegungen ziemlich schnell. Außer ihr und ihm
war niemand mehr im Wasser. Sie hatte Lust, ihn einzuholen. Sie rief ihm zu,
ohne Scherz, wenn sie auch keine Angst hatte:
„Paul,
schwimm nicht so weit raus! Komm zurück!“
Er
drehte sich um, hatte sie aber nicht verstanden; obwohl es ein ruhiger, klarer
Tag war, waren das Meer und der Wind lauter als sie. Sie rief nochmal, kam
dabei etwas außer Atem. Na endlich, er kehrte um.
Sie
legte ein bisschen an Tempo zu, und lächelte, weil sie jetzt gleich zusammen
sein würden.
Aber
seine Lippen zitterten blau, und er lächelte nicht zurück. Seine braunen Haare
klebten an seinem Kopf. Irene spürte plötzlich, wie weit weg von der Küste sie
waren, weit weg von der warmen, bequemen Matratze.
„Ist
alles in Ordnung?“ fragte sie, beinahe bei ihm angelangt. Er antwortete nicht.
Er klapperte mit den Zähnen. Seine Augenlider flatterten. Nein, es war nicht
alles in Ordnung.
Jetzt
fühlte sie, wie kalt das Wasser war, ihre Nase lief.
„Was
ist, mein Schatz? Was hast du? Frierst du?“ Sie fragte ihn das, als säßen sie
zu Hause in ihrer Küche und als sei alles nur eine Frage des guten Willens, den
sie, was ihn anbetraf, auf jeden Fall hatte. Ach, säßen sie doch zu Hause in
der Küche.
Sie
berührten sich jetzt.
Und
er - konnte nicht mehr.
Er
konnte nicht mehr reden, er war ganz steif, sie fühlte es an seinen Armen,
seine Muskeln hart und kalt wie Steine.
Wie
konnte das passieren?
Wir
sind in Gefahr.
Was
soll ich bloß tun?
Irene
war zu Tode erschrocken.
Sie
erinnerte sich an rot-braun kolorierte Abbildungen – Bild eins, Bild zwei, Bild
drei, wo hatte sie die nochmal gesehen – wie rettet man einen Ertrinkenden –
sie wusste nicht, wie.
„Halte
dich an mir fest,“ sagte sie „wir schaffen das schon!“
„Es
tut mir leid,“ das war alles, was er sagte, zwischen klappernden Zähnen.
Sie
hatten bisher alles miteinander geschafft.
Es
war ihnen allerdings bisher noch nie etwas wirklich Schlimmes passiert in all
den Jahren, nicht einmal eine Geburt, dachte sie, und nahm sich vor, später mit
ihm darüber zu reden. Weshalb ihr eine Geburt als etwas Schlimmes eingefallen
war.
Sie
hatten noch keine Kinder.
Er
legte seine Arme um ihren Hals, steif wie eine Klammer und sie versuchte, mit
ihm zu schwimmen. Aber er störte sie zu sehr in ihren Bewegungen, sie konnte
sich kaum rühren, immer stieß sie an ihn; sie waren etwa gleich groß, aber er
war schwerer als sie und würgte sie mit seinen harten, steifen Armen. Irene
schluckte Wasser, ein Mal, zwei Mal.
„Nicht
so,“ japste sie „du ziehst mich ja runter!“
Aber
wie dann?
Er
ließ sie nicht los, im Gegenteil. Er klemmte an ihr mit verbissenem Schweigen.
„Paul,
bitte, lass mich einen Augenblick los!“ flehte sie, aber seine Augen waren ein
bisschen wie verdreht und seine Wangen bläulich.
Ihr
kamen Tränen, ihre Verzweiflung schlug in Panik um. Sie hatte viel zu viel
salziges Wasser geschluckt, musste husten, es tat weh in der Nasenhöhle, er
ließ sie nicht los, trat sie ans Schienenbein, er war nicht mehr Paul,
der
Paul, den sie kannte,
und
der sie kannte.
Sie
konnte sich nicht bewegen.
Sie
würden zusammen untergehen.
Und
keiner kam zur Hilfe.
Sie
waren alleine.
Irene
fror so sehr, hatte so wenig Atem übrig, dass sie nicht schreien, nicht rufen
konnte. Ihre Zähne schlugen wild und unkontrollierbar aufeinander.
Sie
schluckte wieder Wasser, durch Mund und Nase, sie sah durch einen nebligen Film.
Sie
versuchte, seine Hände zu lösen, aber er zog an ihr, ihr Bikini war vollkommen
verrutscht, ihre langen Haare waren um seine Hände gewickelt und zerrten sie
nach unten.
Er
würde sie umbringen.
„Lass
mich los, verdammt noch mal!“
Sie
sanken beide, Irene verlor einen Augenblick die Besinnung…aufwachen in ihrem
Bett, zu Hause, an ihn geschmiegt, warm und vertraut…
Als
sie halb erstickt wieder auftauchte konnte sie Pauls Gesicht nicht mehr sehen.
Mit
aller Macht und beiden Beinen und Armen, mit einem unbekannten Laut, der vor
Anstrengung aus ihr brach gab sie ihm einen gewaltigen Stoß.
Es
war in ihr, als hätte sie sich in zwei gerissen.
Als
hätte er Stücke aus ihr mitgerissen.
Sie
zögerte eine Sekunde, zwischen Wahnsinn und Überleben, zwischen Leben und Tod.
Sie
sah ihn schwach um sich schlagen, auftauchen und wieder untergehen, seine
Hände, die sie so liebte. Sie wollte zurück. Sie wollte alles neu machen. Sie
wollte ihm helfen. Sie konnte nicht. Sie war selbst am Ende. Sie war am Ende.
Zugeredet
hatte sie sich, ohne zu denken, eins, zwei, los, vorwärts, du musst, du musst,
sie erinnerte sich nicht, wie sie angekommen war, bloß, dass für sie alles
dunkel und eisig wurde.
Sie
wurde ohnmächtig, Leute waren um sie, ein Mann und zwei Frauen, sie sagte dabei
zu Paul in ihrem Innersten „Verzeih mir, dass ich nicht geblieben bin, warum
bin ich nicht geblieben
verzeih mir.“
Vier
Jahre später saß sie alleine auf einer Terrasse am Meer, woanders, zum ersten
Mal, und weit weg vom Strand.
Vier
Jahre. Ohne Paul. Alleine.
Sie
schluckte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wartete. Graugrünes Meer,
mit schmalen weißen Rändern auf den Wellen, die den Strand berührten. Irene hörte
auf das regelmäßige Rauschen. Atmete. Wartete. Setzte ihre Sonnenbrille auf und
schaute das Meer an, ein wenig von der Seite, zum ersten Mal. Von Weitem aber
mehr als nahe genug.
Sie
schloss die Augen, ihre Hände lagen rechts und links von ihrer Teetasse auf dem
Tisch. Sie schloss ihre Finger zu Fäusten, ein Krampf zog ihr Herz zusammen.
Sie wartete wieder. Atmete. Putzte sich die Nase, hob ihre Sonnenbrille an und
trocknete ohne Eile ihre Tränen.
Eine
ganze Weile verstrich. Sie rührte sich nicht.
Dann
schaute sie wieder aufs Meer, diesmal gerade aus.
Und
wusste, wusste ganz sicher: er hätte ihr verziehen.
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