Sonntag, 17. Februar 2013

Das Meer (Aus: "Darüber spricht man nicht")


 DAS MEER 


Irene lag auf einer dicken, bequemen Matratze auf dem Bauch, den Kopf in Richtung Meer auf ihre Hände gestützt. Sie hatte den kleinen Privatstrand fast für sich alleine, die meisten Gäste waren schon ins Hotel zurück gegangen. Es war Ende des Nachmittages und die Mitte ihrer Ferien.
Sie fühlte sich etwas benommen, entspannt und wohl.
Die Sonne schien gerade richtig – sie wärmte angenehm aber brannte nicht mehr.

Irene döste mit geschlossenen Augen vor sich hin. Sie war zu faul zum lesen. Ab und zu blinzelte sie. Und wenn sie eine Stimme hörte, oder ihr sonstwie schien, es gäbe etwas Interessantes zu beobachten, setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Nicht nur wegen des starken Lichts sondern auch, weil sie etwas kurzsichtig war und ihre Brille Korrekturgläser hatte. Und weil dann niemand sehen konnte, ob und wohin sie ihren Blick wandern ließ. Sozusagen drei Fliegen mit einem Streich.

Ihr Mann war im Wasser. Er ging öfter ins Meer als sie, die vor dem Augenblick des Eintauchens zurückschreckte; sie konnte nicht ohne einen kleinen Aufschrei ihren warmen Körper ins Wasser gleiten lassen, während ihr Gefährte gerade dieses Gefühl besonders zu mögen schien. Er tauchte und spritzte wie ein Kind, blieb aber nie lange, wieder im Gegensatz zu ihr, die, war sie einmal nass, gerne lange schwamm. „Schwimm nicht so weit raus!“ sagte er dann zu ihr, und sie antwortete zwar „Jaja!“, schwamm aber trotzdem weit, denn sie fühlte sich mit Wasser im Einklang und außer Gefahr.

Sie warf einen Blick aufs Meer, sieh an, heute schwamm er ja! Sie hätte ihm gerne spaßeshalber zugerufen „Schwimm nicht so weit raus!“, aber sogar dazu war sie zu faul, und er hätte es wahrscheinlich sowieso nicht gehört – der Abstand zwischen ihnen schien zu groß und außerdem rauschten die flachen Wellen, wenn sie sich sammelten, bevor sie sich auf dem Strand ausrollten …

Sie schloss ihre Augen wieder, nickte ein.
Blinzelte, setzte ihre Sonnenbrille auf. Er schwamm aber wirklich weit draußen! Sie erschrak ein bisschen, aber das kam, weil sie gerade geschlafen hatte. Wenige Sekunden später - sobald sie ganz bei Bewusstsein war – beruhigte sie sich. Er war ja vernünftig und kannte sich gut. Außerdem war er ausdauernder Schifahrer, Sportler überhaupt.
Dennoch stand sie mit einem Mal hellwach auf.
Sie wollte ihm entgegen schwimmen.

Puh, es war jedes Mal, als würde ihr Herz stehen bleiben, wenn das kalte Wasser sie umarmte!
Sie schwamm in ruhigen, kräftigen Zügen, hatte sofort ihren Rhythmus, sie schwamm gut und trotz ihrer langsamen Bewegungen ziemlich schnell. Außer ihr und ihm war niemand mehr im Wasser. Sie hatte Lust, ihn einzuholen. Sie rief ihm zu, ohne Scherz, wenn sie auch keine Angst hatte:
„Paul, schwimm nicht so weit raus! Komm zurück!“
Er drehte sich um, hatte sie aber nicht verstanden; obwohl es ein ruhiger, klarer Tag war, waren das Meer und der Wind lauter als sie. Sie rief nochmal, kam dabei etwas außer Atem. Na endlich, er kehrte um.
Sie legte ein bisschen an Tempo zu, und lächelte, weil sie jetzt gleich zusammen sein würden.

Aber seine Lippen zitterten blau, und er lächelte nicht zurück. Seine braunen Haare klebten an seinem Kopf. Irene spürte plötzlich, wie weit weg von der Küste sie waren, weit weg von der warmen, bequemen Matratze.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte sie, beinahe bei ihm angelangt. Er antwortete nicht. Er klapperte mit den Zähnen. Seine Augenlider flatterten. Nein, es war nicht alles in Ordnung.
Jetzt fühlte sie, wie kalt das Wasser war, ihre Nase lief.
„Was ist, mein Schatz? Was hast du? Frierst du?“ Sie fragte ihn das, als säßen sie zu Hause in ihrer Küche und als sei alles nur eine Frage des guten Willens, den sie, was ihn anbetraf, auf jeden Fall hatte. Ach, säßen sie doch zu Hause in der Küche.
Sie berührten sich jetzt.

Und er - konnte nicht mehr.
Er konnte nicht mehr reden, er war ganz steif, sie fühlte es an seinen Armen, seine Muskeln hart und kalt wie Steine.
Wie konnte das passieren?
Wir sind in Gefahr.
Was soll ich bloß tun?
Irene war zu Tode erschrocken.
Sie erinnerte sich an rot-braun kolorierte Abbildungen – Bild eins, Bild zwei, Bild drei, wo hatte sie die nochmal gesehen – wie rettet man einen Ertrinkenden – sie wusste nicht, wie.

„Halte dich an mir fest,“ sagte sie „wir schaffen das schon!“
„Es tut mir leid,“ das war alles, was er sagte, zwischen klappernden Zähnen.

Sie hatten bisher alles miteinander geschafft.
Es war ihnen allerdings bisher noch nie etwas wirklich Schlimmes passiert in all den Jahren, nicht einmal eine Geburt, dachte sie, und nahm sich vor, später mit ihm darüber zu reden. Weshalb ihr eine Geburt als etwas Schlimmes eingefallen war.
Sie hatten noch keine Kinder.  

Er legte seine Arme um ihren Hals, steif wie eine Klammer und sie versuchte, mit ihm zu schwimmen. Aber er störte sie zu sehr in ihren Bewegungen, sie konnte sich kaum rühren, immer stieß sie an ihn; sie waren etwa gleich groß, aber er war schwerer als sie und würgte sie mit seinen harten, steifen Armen. Irene schluckte Wasser, ein Mal, zwei Mal.
„Nicht so,“ japste sie „du ziehst mich ja runter!“
Aber wie dann?
Er ließ sie nicht los, im Gegenteil. Er klemmte an ihr mit verbissenem Schweigen.
„Paul, bitte, lass mich einen Augenblick los!“ flehte sie, aber seine Augen waren ein bisschen wie verdreht und seine Wangen bläulich.
Ihr kamen Tränen, ihre Verzweiflung schlug in Panik um. Sie hatte viel zu viel salziges Wasser geschluckt, musste husten, es tat weh in der Nasenhöhle, er ließ sie nicht los, trat sie ans Schienenbein, er war nicht mehr Paul,
der Paul, den sie kannte,
und der sie kannte.

Sie konnte sich nicht bewegen.
Sie würden zusammen untergehen.
Und keiner kam zur Hilfe.
Sie waren alleine.
Irene fror so sehr, hatte so wenig Atem übrig, dass sie nicht schreien, nicht rufen konnte. Ihre Zähne schlugen wild und unkontrollierbar aufeinander.
Sie schluckte wieder Wasser, durch Mund und Nase, sie sah durch einen nebligen Film.
Sie versuchte, seine Hände zu lösen, aber er zog an ihr, ihr Bikini war vollkommen verrutscht, ihre langen Haare waren um seine Hände gewickelt und zerrten sie nach unten.
Er würde sie umbringen.
„Lass mich los, verdammt noch mal!“
Sie sanken beide, Irene verlor einen Augenblick die Besinnung…aufwachen in ihrem Bett, zu Hause, an ihn geschmiegt, warm und vertraut…
Als sie halb erstickt wieder auftauchte konnte sie Pauls Gesicht nicht mehr sehen.

Mit aller Macht und beiden Beinen und Armen, mit einem unbekannten Laut, der vor Anstrengung aus ihr brach gab sie ihm einen gewaltigen Stoß.

Es war in ihr, als hätte sie sich in zwei gerissen.
Als hätte er Stücke aus ihr mitgerissen.

Sie zögerte eine Sekunde, zwischen Wahnsinn und Überleben, zwischen Leben und Tod.

Sie sah ihn schwach um sich schlagen, auftauchen und wieder untergehen, seine Hände, die sie so liebte. Sie wollte zurück. Sie wollte alles neu machen. Sie wollte ihm helfen. Sie konnte nicht. Sie war selbst am Ende. Sie war am Ende.

Zugeredet hatte sie sich, ohne zu denken, eins, zwei, los, vorwärts, du musst, du musst, sie erinnerte sich nicht, wie sie angekommen war, bloß, dass für sie alles dunkel und eisig wurde.
Sie wurde ohnmächtig, Leute waren um sie, ein Mann und zwei Frauen, sie sagte dabei zu Paul in ihrem Innersten „Verzeih mir, dass ich nicht geblieben bin, warum bin ich nicht geblieben
 verzeih mir.“

Vier Jahre später saß sie alleine auf einer Terrasse am Meer, woanders, zum ersten Mal, und weit weg vom Strand.
Vier Jahre. Ohne Paul. Alleine.
Sie schluckte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wartete. Graugrünes Meer, mit schmalen weißen Rändern auf den Wellen, die den Strand berührten. Irene hörte auf das regelmäßige Rauschen. Atmete. Wartete. Setzte ihre Sonnenbrille auf und schaute das Meer an, ein wenig von der Seite, zum ersten Mal. Von Weitem aber mehr als nahe genug.
Sie schloss die Augen, ihre Hände lagen rechts und links von ihrer Teetasse auf dem Tisch. Sie schloss ihre Finger zu Fäusten, ein Krampf zog ihr Herz zusammen. Sie wartete wieder. Atmete. Putzte sich die Nase, hob ihre Sonnenbrille an und trocknete ohne Eile ihre Tränen.
Eine ganze Weile verstrich. Sie rührte sich nicht.
Dann schaute sie wieder aufs Meer, diesmal gerade aus.
Und wusste, wusste ganz sicher: er hätte ihr verziehen.

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